Ein Ereignis und eine Erscheinung in der europäischen Poesie

Margarit Shekov

Ein Ereignis und eine Erscheinung in der europäischen Poesie

Die erste Auflage des Gedichtbandes “So viel” der Dichterin Tanya Nikolova erschien 2007 in der hervorragenden Bücherreihe “Bulgarische Sammlung” des Literaturen Forum-Verlags nach einem gewonnenen Wettbewerbs des Kulturministeriums.

Ohne Zweifel ist das ein Traumdebüt, nachdem ein tiefgründiger Dichter wie Wladimir Popow über das Buch folgendes geschrieben hat: „Eigentlich sind die Treue zum Leben, so wie es ist (aber nicht im Sinne der Lebensweise) und Treue zur Dichtung, so wie sie nötig ist (aber nicht in ihrer literarischen Bedeutung) die Stützen, die die Welt der Dichterin festhalten.“

Inzwischen lässt Tanja Nikolova auch die Gedichtbände “Gleichgewicht” (2012), “Morseschrift” (2016) und “Unbestelltes Porträt” (2017) in Erscheinung treten.

Aus der Pointe des Schlussgedichts “***Er hat alle Rechnungen bezahlt und setzte sich” entspringt der Titel des Gedichtbandes “So viel” und dem Leser schaudert bei der Entdeckung, dass sogar ein so kategorisches Wort wie “so viel” erstaunlicherweise mehrdeutig sein kann. Was mag diese unerwartete, traurige Pointe in dem Gedicht bedeuten, das bahnbrecherisch die Linie vom späten Janaki Petrov aus seinem Gedicht “Einsamer Greis” fortsetzt? Auf den ersten Blick ist das ein scharfer Verzicht des lyrischen Sprechers auf weitere Beschreibung. Doch die Pointe flößt auch ihre andere Bedeutung ein, die auf die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens im Stil der biblischen Maxime “Es ist vollbracht” andeutet. Das ganze Werk klingt wie eine sarkastisch grotesk entlarvende Ringparabel, die den Zynismus des weltlichen Daseins verwirft, der dem Menschen nur die Berufung zuweist, ein verhärmter, hilfsloser Kalkulator des Geldes und Zahler der Rechnungen für die Regiekosten seines Haushalts zu sein. Während Janaki Petrow in seinem Gedicht “Einsamer Greis” das Tragische im Schicksal des patriarchalen Dorfeinwohners darstellt, der, einsam im menschenleeren Dorf verweilend und verurteilt, sein Leben in Einsamkeit enden zu lassen, allein, bevor er stirbt, die Weizen für die Gedenkfeier kocht, die an seinen Tod erinnert, gibt Tanja Nikolova in ihrem Gedicht “***Er hat alle Rechnungen bezahlt und setzte sich” das Tragische im Schicksal des Stadteinwohners wieder, der auch  in Einsamkeit stirbt, aber das ist die Einsamkeit als eine Erfahrung, die unter einem Dach mit den innigsten Mitmenschen, mit den Familienmitgliedern, erlebt worden ist.

Im Gedicht “Ohne Antwort” prüft sich das lyrische Ich selbst, indem es vor der Falschheit des Weltlichen steht, und fragt sich, ob es zu einer vollen Selbstverleugnung im Sinne vom Standpunkt des Paulus „Alles achte ich für Kot“ fähig ist, um in seinem eigenen Leben die Wahrheit zu gewinnen und für sie schöpferisch Zeugnis abzulegen. Diese Gebärde einer heldenmütigen geistigen Würde und diese Weltanschauung des Ich ist eigentlich ein Verzicht auf die sich selbst rechtfertigende menschliche Gerechtigkeit und ist gleichzeitig eine Sehnsucht nach der Gemeinanwendung der Verneinung des Weltlichen und der Vergebung ihm gegenüber. Das ist auch die wahre menschliche geistige Sehnsucht und das wahre Ideal: Differenzierung, Verleugnung des Weltlichen und der Prinzipien der falschen Menschen, aber gleichzeitig vergebender Geist  denselben sich selbst täuschenden Leuten gegenüber, damit das lyrische Ich in der Harmonie des begehrten Glücks der das menschliche Herz liebkosenden und tröstenden Wahrhaftigkeit bleibt.

Im Gedicht “Brief nach Kabul” setzt das lyrische Ich, indem es derselben Ethik folgt, die Werte des Lebens auf ihre wahren Plätze, indem es die kleinen Dinge im Leben als groß erklärt und auf diese Weise die auch in anderen Werken (wie “Der Fluss” und “Platonisch”, zum Beispiel) schillernde Offenbarung wiedergibt, dass der Sinn des Lebens und der Kern des menschlichen Glücks in den kleinenGebärden der Achtung, Liebe und Barmherzigkeit dem Bruder-Menschen gegenüber besteht.

Die große poetische Entdeckung im “Brief nach Kabul” ist auch der Schluss des Werkes, der die Träne nicht bloß als eine Verkörperung der geistlichen Gnade darstellt, wie es bei vielen anderen in dieser Problematik vertieften Dichtern der Fall ist, sondern als die demütigste, die seligste Identifikation des Ich selbst:

ich stelle mir vor wie du ihn liest und lächelst

und schrumpfe

zu einer Träne

 

Im Gedicht “Schwindel” beeindrückt nicht nur die Feindseligkeit des lyrischen Ich gegenüber der Ausübung des Rechtes auf eine Wahl durch den für den Menschen der Schöpfung nach bestimmten freien Willen, sondern auch der Heldenmut des Ich, die Unvernunft seines eigenen Verhaltens zu gestehen:

 

ich möchte, dass sich nichts ändert

und doch, dass alles anders ist…

… und laufe herum

wie ein kopfloses Huhn

mit mässiger Unvernunft

von einem Wahnsinn in den anderen

 

In dieser Unvernunft des Ich gibt es auch einen Widerhall von der rebellischen Gebärde des lyrischen Ich in Botews Poesie, das seinen Schmerz und sein Gedächtnis im Glas voller Spirituosen ertränken will.

Es geht um eine Poetik, in der der lyrische Sprecher die Weisheit hat, Ermutigung sogar aus der trostlosesten Grenzsituation zu schöpfen, indem er die wunderliche Bildhaftigkeit seiner innigen Welt offenbart:

 

es ist einfach

wie das Atmen mit Inhalationsgerät

eines ans Leben sich klammernden

Totgeweihten…

 

es ist Zeit

immer ist es Zeit fürs Leben

 

In dieser Poesie ist das lyrische Ich aus eigener Erfahrung schon der Haltlosigkeit des Hasses bewusst gewesen, aber es gibt diese Haltlosigkeit delikaterweise wieder, und zwar durch eine als Pointe zum Ausdruck gebrachte und im Konjunktiv dargestellte unmögliche persönliche Erfahrung:

 

und wenn ich mit Hass die Welt sprengen könnte

glaubt mir, ich hätte es getan!

 

In seinem unbeugsamen Drang nach der extremen Offenheit und nach der innigen Wahrhaftigkeit  kommt das lyrische Ich zu seiner einmaligen Entdeckung auch über das erotische Erlebnis, das als “berauschende Hilfslosigkeit” dargestellt worden ist, sowie auch zur Entdeckung über das selbstlose seelsorgerische Mitgefühl mit dem Geliebten:

 

Ich bin dein Wachhund

getreten, pflichtbewusst

Hund, der treu seiner Mission ist

zu lieben

auf seine Hunde-Art-und-Weise

dressiert mit Stückchen Liebe

um mit großem Einsatz zu kämpfen

gegen jeden und alles

 

Es ist bemerkenswert, dass das biblische gleichnisförmige prophetische Bild des geistigen Seelsorgers gerade der Hund ist, das durch die göttliche Entlarvung an den Tag gelegt worden ist, die diese gleichnisförmige Symbolik in Bezug auf die Menschen benutzt, die berufen sind, geistige Wachen zu sein: “Alle ihre Wächter sind blind, sie wissen nichts; stumme Hunde sind sie, die nicht strafen können, sind faul, liegen und schlafen gerne.” (Jesaja 56:10). Und in seinem Tagebuch bemerkt der geniale Staatsmann Stefan Stamboloff, der auch ein äusserst begabter Dichter und geistiger Bruder von Botew ist, indem er seine hingebungsvolle Treue zu Bulgarien hervorheben möchte: “Ich diente ihm wie ein Hund”.

Bemerkenswert ist auch der Schluss des erwähnten Gedichts “Liebe”. Die Pointe bemerkt bescheidenerweise, dass der Kampf der Liebe “zum Trotz! /des Schmerzes / und sich selbst zum Trotze“ geführt wird. Das ist eigentlich die bahnbrecherische, unaufdringliche und vor jeglicher Pompösität bewahrte Darstellung der Schlüsselerfahrung des geistlichen Menschen, dieses tägliche ‘Sterben‘ der Person dem Egoistischen gegenüber, die Entkräftung der Antriebe der fleischlichen sündigen Natur durch den Geist, über die Paulus schreibt: “Ich sterbe täglich” (1 Kor 15:31). Und noch dazu: “Wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tötet, so werdet ihr leben” (Römer 8:13).

Auf diese Weise verwandelt sich die Poesie von Tanya Nikolova nicht nur in ein Ereignis, sondern auch in eine Erscheinung der bulgarischen und der europäischen Dichtung, die durch die Gabe bewundert, bahnbrecherisch die erhabensten und die täglichen geistlichen Wahrheiten darzustellen, und zwar mit der anmutigen und reizvollen Natürlichkeit und Aufrichtigkeit, die dem gewöhnlichen Sterblichen, dem namenlosen Mitbruder eigen ist, der sich nicht zwingt zu lieben, sondern mit Vertrauen sich sehnt und die jene von Gott geschenkte Liebe erhält, die ungezwungen wie die Atmung ist.

 

11-21.06.2018